Kritisches Argumentieren im Licht des Rationalismus

Diese Analyse stellt eine Form des kritischen Argumentierens vor, wie sie exemplarisch im Rahmen des kritischen Rationalismus praktiziert wird. Im Mittelpunkt steht ein Textausschnitt aus dem Werk von Reinhard und Annemarie Tausch (1970), der kritisch mit einer etablierten Typologie des Lehrerverhaltens umgeht. Der Text zeigt, wie sich ein argumentatives Vorgehen entfalten kann, das sich auf empirische Prüfbarkeit und methodische Klarheit stützt, ohne dabei grundlegende Zielsetzungen zu hinterfragen.

Kritik an der Typologie von Kurt Lewin

Die Autoren Tausch/Tausch üben Kritik an der weithin bekannten Einteilung von Führungs- und Erziehungsstilen nach Kurt Lewin: laissez-faire, demokratisch, autoritär. Sie argumentieren jedoch nicht, dass diese Typologie grundsätzlich falsch oder politisch problematisch sei. Ihr Ansatz ist spezifisch rationalistisch: Sie hinterfragen, ob diese Einteilung geeignet ist, um Lernprozesse empirisch zu erforschen und zu optimieren.

Ihr zentrales Argument lautet: Die Lewin’sche Typologie ist methodisch unpräzise, ihre Begriffe sind unscharf definiert, wodurch empirische Vergleichbarkeit erschwert oder unmöglich gemacht wird. Für eine empirisch kontrollierbare Pädagogik sei das unbrauchbar.

Entwicklung eines alternativen Bezugssystems

Als Konsequenz führen die Autoren ein alternatives Koordinatensystem mit zwei quantitativ abgestuften Hauptdimensionen ein. Dieses neue Bezugssystem ermöglicht eine differenziertere und eindeutigere Einordnung verschiedener Lehrstile.

Ziel ist es, einen Zusammenhang zwischen Lehrerinnenverhalten und Schülerinnenverhalten aufzuzeigen. Besonders im Fokus stehen erwünschte Effekte wie individuelle Freiheit, soziale Ordnung, Leistung oder emotionale Reife. Die Forschungslogik ist dabei klar: Wer als Lehrkraft diese Effekte fördern will, soll sein Verhalten entsprechend anpassen können.

Wissenschaft ohne Wertbezug?

Bemerkenswert ist die Grundhaltung der Autor*innen gegenüber der Rolle von Werten in der Forschung. Sie betonen, dass ihre empirischen Ergebnisse unabhängig von ideologischen Zielsetzungen gültig seien. Aus ihrer Sicht ist empirische Bildungsforschung in der Lage, ein „enges Netz von Befunden“ zu erzeugen, das auch ohne Rücksicht auf normative Vorstellungen funktioniere (Tausch/Tausch 1970, S. 32).

Damit bleiben zentrale pädagogische Leitbegriffe wie „soziale Ordnung“, „Leistung“ oder „emotionale Reife“ selbst unbefragt. Der kritische Rationalismus erlaubt Kritik an Methoden und empirischen Zugriffen, lässt aber die grundlegenden Werte und Zielvorstellungen oft unangetastet.

Anschlussfähige Kritik: Perspektive der Kritischen Theorie

Genau hier setzt eine weiterführende Kritik an, wie sie etwa aus der Kritischen Theorie formuliert wird: Warum gelten diese Ziele als selbstverständlich? Wer bestimmt, was „erwünschtes Verhalten“ ist? Ist es legitim, soziale Ordnung als pädagogisches Ziel zu setzen?

Die Kritische Theorie fordert, dass nicht nur die Mittel, sondern auch die Ziele und normativen Voraussetzungen wissenschaftlicher Arbeit reflektiert und problematisiert werden. Damit öffnet sich ein Raum für wertbezogene, politisch bewusste Kritik, der im kritischen Rationalismus methodisch nicht vorgesehen ist.

Fazit

Der Text von Tausch/Tausch ist ein Beispiel für einen methodisch sorgfältigen, empirisch fundierten und kritisch reflektierten Zugang im Sinne des kritischen Rationalismus. Gleichzeitig zeigt er aber auch die Grenzen dieser Perspektive: Sie kritisiert die Eignung der Mittel, nicht aber die Geltung der Ziele. Genau hier beginnt ein erweitertes kritisches Denken.

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