Kritisch lesen lernen im Studium
April 3, 2025
In Zeiten digitaler Informationsflut ist kritisches Lesen eine Schlüsselkompetenz im Studium und in der beruflichen Praxis. Besonders in Online-Seminaren und im selbstgesteuerten Lernen spielt diese Fähigkeit eine zentrale Rolle: Texte müssen nicht nur verstanden, sondern auch eingeordnet, analysiert und hinterfragt werden. Kritisches Lesen fördert nicht nur das Textverständnis, sondern auch die Fähigkeit zur eigenständigen Urteilsbildung – eine Voraussetzung für wissenschaftliches Arbeiten und reflektiertes Handeln.
Doch wie kann man kritisches Lesen gezielt lernen und üben? Im Folgenden werden vier bewährte Übungen vorgestellt, die sich leicht in den (digitalen) Studienalltag integrieren lassen. Sie sind praxisnah, flexibel einsetzbar und eignen sich sowohl für Einzelarbeit als auch für kollaborative Lernsettings.
Die Fragehaltung aktiv einnehmen
Ziel: Leser*innen sollen lernen, Texte nicht passiv zu konsumieren, sondern gezielt mit eigenen Fragestellungen zu konfrontieren.
Hintergrund: Wer mit einer klaren Leseabsicht an einen Text herangeht, kann Relevantes besser erkennen und Unklarheiten gezielter identifizieren. Fragen lenken die Aufmerksamkeit auf argumentative Strukturen und helfen, zwischen Fakten, Meinungen und Annahmen zu unterscheiden.
Übung: Vor dem Lesen formulieren Studierende individuell oder gemeinsam Leitfragen, zum Beispiel:
- Welche zentrale These verfolgt der Text?
- Welche Belege oder Daten werden genannt?
- Welche Position nimmt der Autor/die Autorin ein?
- Welche Begriffe sind unklar?
- Welche Zielgruppe spricht der Text an?
Erweiterung: Die Fragen können in einem Lesetagebuch notiert und nach der Lektüre schriftlich beantwortet werden. Alternativ können die Fragen in kollaborativen Pads (z. B. Etherpad, Google Docs) gesammelt und gruppenweise bearbeitet werden.
Hinweis für Lehrende: In Online-Seminaren bietet sich der Einsatz von Vorab-Leseaufträgen mit Fragenkatalogen an. So wird der Text zur gemeinsamen Diskussionsgrundlage.
Randmarkierungen mit System nutzen
Ziel: Studierende strukturieren den Text visuell und inhaltlich, entwickeln ein vertieftes Textverständnis und schulen ihre Unterscheidungsfähigkeit.
Warum das wirkt: Viele Leser*innen markieren zwar Textstellen, doch oft ohne System. Ein strukturierter Einsatz von Markierungen mit klaren Funktionen fördert das gezielte Lesen und die spätere Textbearbeitung.
Übung: Einführung eines persönlichen Markierungssystems. Mögliche Varianten:
Farben:
- Gelb = zentrale Aussagen
- Grün = unterstützende Argumente
- Blau = Gegenpositionen
- Rosa = eigene Fragen oder Zweifel
Symbole:
✔️ = überzeugend
❗ = kritisch zu hinterfragen
❓ = unklar
💡 = interessante Idee
Tipp: Ergänzt werden die Markierungen durch kurze Randnotizen, z. B. mit Schlagwörtern oder einer Mini-Zusammenfassung. So entstehen personalisierte Lesespuren, die das spätere Wiederholen erleichtern.
Digitale Umsetzung: Tools wie Kami, Adobe Acrobat, Hypothes.is oder Notability eignen sich besonders gut für kollaborative oder annotierte PDF-Lektüre.
Argumentationsstruktur rekonstruieren
Ziel: Die Leser*innen erkennen, wie ein Text aufgebaut ist, welche Argumentationslinien verfolgt werden und wie überzeugend diese sind.
Warum das wichtig ist: Viele wissenschaftliche Texte sind komplex aufgebaut. Wer versteht, wie eine Argumentation funktioniert, kann gezielter mitreden, argumentieren und kritisch beurteilen.
Übung: Nach der Lektüre wird die Argumentationsstruktur in Form eines Schemas rekonstruiert:
- Thema / Problemstellung
- These(n)
- Hauptargumente (pro/contra)
- Belege oder Daten
- Gegenargumente
- Schlussfolgerung
Erweiterung: Diese Struktur kann grafisch dargestellt werden – als Mindmap, Tabelle oder Flussdiagramm. Das Visualisieren hilft, den Überblick zu bewahren und zentrale Aussagen schneller zu erkennen.
Praxistipp: Bei komplexen Texten kann die Gruppe arbeitsteilig vorgehen (je ein Abschnitt pro Person), danach wird die Struktur zusammengefügt.
Für Lehrende: Nutzen Sie Online-Whiteboards (z. B. Miro, Mural, Conceptboard) für kollaborative Visualisierungen in Breakout-Räumen.
Kritische Reflexion schriftlich festhalten
Ziel: Studierende reflektieren bewusst ihre eigene Haltung zum Text und lernen, Position zu beziehen.
Warum das zentral ist: Kritisches Lesen endet nicht mit dem Verständnis des Textes – es geht auch darum, eine eigene Position zu entwickeln. Das schriftliche Festhalten der Reflexion fördert Argumentationsfähigkeit und Selbstständigkeit.
Übung: Nach dem Lesen verfassen Studierende eine kurze schriftliche Reflexion (ca. 150–200 Wörter). Mögliche Leitfragen:
- Welche Aussage hat mich besonders überzeugt – und warum?
- Wo sehe ich Schwächen in der Argumentation?
- Was fehlt mir im Text?
- Wie bewerte ich den Text im Vergleich zu anderen Quellen?
- Inwieweit beeinflusst der Text meine eigene Position zum Thema?
Tipp für die Umsetzung: Die Reflexion kann als Teil eines Lernportfolios oder in einem digitalen Forum (z. B. auf Moodle) eingereicht werden. Peer-Feedback oder kurze Kommentare durch Lehrende verstärken den Lernprozess.
Fazit
Kritisches Lesen ist keine angeborene Fähigkeit, sondern ein lernbarer Prozess – besonders im Kontext digitaler Lehre und selbstgesteuerten Lernens. Die vorgestellten Übungen zeigen, wie sich mit einfachen Mitteln tiefere Textzugänge eröffnen lassen. Entscheidend ist nicht die Methode an sich, sondern die regelmäßige Anwendung und Reflexion im Lernalltag.
Für Lehrende bieten sich hier vielfältige Möglichkeiten: als strukturierende Leseaufträge, als Basis für Online-Diskussionen oder als Bausteine für Portfolioarbeit. Für Studierende wiederum stärken diese Übungen nicht nur das Textverständnis, sondern auch Selbstständigkeit, Urteilsvermögen und wissenschaftliche Ausdruckskraft.